verrückt

ver-rückte finden sich immer wieder in der u-bahn. gestern war es aber anders. junger mann, etwa 27 geschätzt, setzt sich in aufgeregtem zustand in den nachbar 4er, unverständliches murmelnd, aber der emotionale druck war sofort für den ganzen waggon spürbar.
hatte große glänzende augen, gesichtsfarbe leicht errötet, gestylt auf jugendlicher rebell mit verstrubbelten haar, das aber sorgfältig so auszusehen hatte. ihm gegenüber ein altes ehepaar, etwa 70 jahre alt. sie sahen gleichgültig vor sich hin, wie fast alle im waggon: es war 21.30h, die meisten müde, und das öffi-gefühl ist ja meist ausdruckslos und maskenstarr .. was den jüngling noch wütender machte. er versuchte eine rede zu halten, über persönlichkeit, daß es früher mal sowas gegeben habe, hier aber seien doch nur trotteln und arschlöcher. ich hatte den cd-player auf den ohren und hörte nur seine lauteren sätze. sah die venen an seinem hals und seiner stirne anschwellen und hervorstreten, und musste ob der komik der situation grinsen. was ihn noch weiter reizte. er schrie mich von der seite her an, ich hörte seine standard-worte "trottel" und "arschloch", und musste dummerweise fast laut lachen. er sprang auf, und ich dachte jetzt wird er handgreiflich, aber er schrie fast unter tränen: "glaubts ihr des macht mir spaß? was soll i denn machen? ihr bringts mich alle um, ihr arschlöcher. glaubts ihr das ist für mich lustig?"
beim nächsten stop stieg er aus, noch einmal dem ganzen waggon seine schimpfworte zurufend.

ich versuchte dann, mich in seine lage zu versetzen. wie aufgebracht muß er sein, um diese show zu liefern? aber was weiß ich von seinem leben, seiner herkunft, seiner familie und seinen freunden?
was bedeutet die steigende anzahl gemütskranker menschen, die sich der öffentlichkeit zeigen? die zu hause gebliebenen sind noch gar nicht dabei.
quirinus - 10. Jan, 16:00

Das isses, ferromonte, ...

... was auch mich bewegt. Jedem, der noch über eine intakte Beobachtungsgabe verfügt, muß auffallen, daß inzwischen auch für einige Länder Europas (zumal für Deutschland) gilt, was Jim Morrison 1967 ach so überspitzt für die USA konstatiert hat: All the children are insane.

Auch aus diesem Grunde habe ich mich zu den Bloggern gesellt und mein Blog Demokratie und Alltag genannt. Denn in der Schule haben wir gelernt, wir alle seien mündige, d.h. selbstbestimmte Bürgerinnen & Bürger; doch die Realität führt uns täglich vor Augen, daß es immer weniger Menschen gibt, die völlig die Kontrolle übe sich selbst verlieren. Der junge Mann, den du beobachtet hast, ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch ich kenne einige solcher Fälle; es sind allesamt stadtbekannte Schizophrene. Doch überall dort, wo diese Kranken in Erscheinung treten, finden sich sehr viel mehr andere, die nicht minder gestört sind - nur daß ihre Krankheit mit einer anderen (nämlich weniger lärmenden) Symptomatik einhergeht. Darüber zu schreiben bin ich angetreten.

ferromonte - 11. Jan, 19:59

du meinst

wahrscheinlich, daß es immer mehr menschen gibt, die völlig die kontrolle über sich verlieren. die kontrolle verlieren kann ja auch mal ganz heilsam sein, wo wir doch alle kontroll-fanatiker und zwangs-patienten sind, aber es gibt da eben den kleinen unterschied: wenn jemand "klinisch" geworden ist ... .
könntest du deinen vorletzten satz präzisieren? möglicherweise versteh ich ihn sonst falsch ...
knutschflower - 10. Jan, 22:59

Du hast mich

mit diesem Artikel richtig angesprochen.
Gerade gestern erst ist mir in der U-Bahn eine Frau gegenüber gesessen, ganz verbissen u. stinkig & unfreundlich etc.
Und ich hab sie irgendwie angesehen u. mir intuitiv verächtlich gedacht: "Du bist aber eine verbitterte Frau, meine Güte setz net so ein G'sicht auf!"

Und dann hab ich mich ganz schlecht gefühlt, weil als ich weiter gedacht hab, da sag ich mir: Eigentlich weiß ich gar nicht, was die Frau viell. alles erlebt hat u. durchmachen musste. Viell. ist das erst vor kurzem passiert & sie hat noch nicht wieder gelernt zu lächeln. Viell. hat sie keine Familie & keine Freunde, viell. ist sie sehr krank & kann damit nicht umgehen ....

Was ich sagen will: wir regen uns oft über die starren od. verbitterten Gesichter in der Stadt auf ohne eigentlich zu überlegen WARUM sie so gucken.

walküre - 11. Jan, 19:45

allgemeine feststellung zum thema

in unseren breitengraden genügt es schon, nicht den gängigen normen zu entsprechen, d.h. einem unorthodoxen lebensstil zu frönen und nicht den überlieferten traditionen (=rollenklischees) zu folgen, um schief angesehen bis verleumdet zu werden; dabei sollten alle, die schnell mit vorurteilen zur hand sind, berücksichtigen, dass der grat zwischen "normalität" (ein überaus gefährliches wort, suggeriert es doch, dass alles ausserhalb dieser norm unnormal, d.h. bedrohlich sei) und "verrücktsein" (eine "verrückheit" wird als sozusagen einmaliger ausrutscher eher noch toleriert) ein unendlich schmaler ist - in einer psychisch angespannten situation kann ein winziger auslöser genügen, um sich auf der "anderen" seite wiederzufinden, wobei die "andere" seite immer latent in uns selbst zu finden ist, nur wünschen wir eher keinen kontakt zu ihr ... vielleicht ist es dieser blick in den abgrund eines anderen menschen, der uns angst macht.

ferromonte - 11. Jan, 20:04

sicher ist

der blick in den abgrund eines anderen, wie du es nennst, anfangs beängstigend. wenn man damit erfahrung hat, verliert man die angst großteils.
ich habe 'verrückt' eben absichtlich so geschrieben, ver-rückt, weil ich diesen schmalen grat so andeuten wollte. ich verachte keine, der probleme hat, nicht zuletzt deshalb, weil ich selbst meine probleme habe (wenn auch nciht psychopathologischer natur).
aber einem bestimmten geburtsjahrgang sind nachgeborene allerdings recht vertraut mir diesen zivilisatorischen phänomenen.
walküre - 11. Jan, 20:11

worauf

führst du diese häufung ab einem bestimmten (welchem ?) geburtsjahr zurück ?

btw: hast du "ich habe dir nie einen rosengarten versprochen" gelesen ?
ferromonte - 11. Jan, 20:24

auf ein

bestimmtes jahr will ich mich nicht festlegen, aber die, die die 70er bewußt miterlebt haben, gehören schon dazu, denke ich.
die allgemeine beschleunigung, der chronische streß durch die allanwesenheit der maschinen und der nerven- bzw. gemütskranken menschen ringsum, die reizüberflutung und die kommunikations- und lieblosigkeit , darauf führ ich das zurück.
(das buch kenn ich nicht, nein)
walküre - 11. Jan, 20:49

vielleicht

hängt es damit zusammen, dass gerade diese generation die erste war, die sich nicht mehr von den bis dahin geltenden starren gesellschaftlichen konventionen gängeln ließ; allerdings begann zu dieser zeit auch der stellenwert der familie stark zu sinken, das pendel schlug in richtung "die freiheit des indivuduums steht über allem" aus.
wenn ich mich dafür entscheide, eine familie zu gründen, muss ich mir allerdings dessen bewußt sein, dass vor allem in den ersten drei lebensjahren eines kindes die freiheit der eltern bzw. vor allem des kinderbetreuenden elternteils sich auf ein minimum beschränkt. mit dieser diskrepanz zwischen wunsch (und auch dem, was die medien suggerieren, wie eine familie auszusehen hat !) und familienalltag können viele eltern mehr schlecht als recht leben - und genau die daraus entstehenden selbstzweifel spüren kinder sehr gut. babys und kleinkinder brauchen starke eltern, sie wollen zu jemandem aufsehen können ... kleinere krisen zwischendurch sind kein problem, aber ein sich-durchwursteln-bis-das kind-erwachsen-ist ist gift für die kinderseele. das urvertrauen und die liebevolle umgebung fehlen und hinterlassen ungeahnte defizite ...

das buch stammt von hannah green und beschreibt autographisch den weg in die schizophrenie und auch wieder heraus; geschrieben wurde es schon 1964, aber es ist von zeitloser intensität.
ferromonte - 11. Jan, 20:59

ja, was du

über die familiensituationen sagst, die gemütskrankheiten fördern, mag durchaus was für sich haben. aber es gibt auch viele kranke, die eine intakte familie und genug aufmerksamkeit und zuwendung hatten ...

das buch klingt sehr interessant, werde es lesen ... danke.
kinomu - 11. Jan, 21:04

vielleicht würde dich auch meine derzeitige lektüre, "paradoxon und gegenparadoxon", interessieren. das passt gut dazu. :-)
quirinus - 12. Jan, 05:56

Mit meinem vorletzten Satz ...

... meinte ich die sog. blanden (d.h. symptomfreien) Borderliner: also jene, die auf den ersten Blick nicht nur normal, sondern auffallend normal und sozial allerbestens angepaßt wirken und oft die höchsten Positionen in Wirtschaft & Politik innehaben. Sie sind erfolgreich, werden also für gesund gehalten - außer wenn sie als Psychopathen enttarnt werden oder George W. Bush heißen und aller Welt demonstrieren, daß etwas mit ihnen nicht stimmt.

Nuu iss woll alles klar, oder?

ferromonte - 12. Jan, 17:59

ja, das

ist mir schon lange klar.

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