george steiner

die ausnahmeerscheinung george steiner hält heute um 19h einen vortrag ("Das Cordelia-Paradox") im palais schwarzenberg, eintritt frei. das darf ich nicht versäumen ...
Die Renaissance und die Aufklärung versprachen dem europäischen Menschen ein Ende der Folter, der Bücherverbrennung, des politischen Massenmords. Eine rasch sich verbreitende Bildung, die Entwicklung kultureller Werte und Anstalten würden die Menschheit humanisieren. Genau das Gegenteil hat sich verwirklicht. In Europa, in Russland wurde die Zeit von 1914 bis 1945 zur Mordgrube der Geschichte. Etwa hundert Millionen Menschen wurden im Krieg, in der Verschleppung, im Holocaust und im Gulag durch Hunger und sadistische Misshandlung getötet. Bücher wurden vernichtet, die Folter wurde alltäglich. Was verursachte dieses unermessliche Misslingen? Könnte es möglich sein, dass die Hochkultur, die humaniora, nicht humanisieren? Liegt ein fatales Paradox im Begriff „Kultur"? Was wäre eine wahrhaft humane Erziehung?
ferromonte - 8. Mai, 23:32

beeindruckender

vortrag. steiner stellt die frage, ob der humanismus nicht das gegenteil des humanen bewirkte, weil er vom realen menschlichen ablenkt. wobei humanismus eben nicht gleich human ist.
die beiden weltkriege waren europäische bürgerkriege, bitte das zu notieren. (natürlich würde quasi die ganze welt mit reingezogen aber ausgingen sie von den europäischen nationalstaaten. das bitte nie vergessen). das 20. jhdt brachte mehr als 100 millionen kriegs- und folteropfer mit sich, ganz im gegensatz zu den utopischen friedens-träumen der aufklärung.
die frage, wie konnten bürger in den stadten (auch in wien natürlich) zuerst läden und häuser von juden zerschlagen, und anschließend hochkultiviert in ein konzert oder die oper gehen? wie KZ-schergen abends zur kultivierten entspannung mozart oder schubert spielen?
warum kuschten fast alle künstler und intellektuellen, verweigerte niemand seine lehrtätigkeit an den UNIs, seinen auftritt in den staatstheatern und -opern? war das möglich, trotz der kultur und der großen bildung, die die menschen doch damals (noch) hatten? oder hatten sie sie nicht?
auch bildung und (hoch)kultur haben alle greuel und das mega-morden des 20. jhdt nicht verhindert. nicht, nicht, nicht, nicht, nicht.
cordelia-paradox ist ein begriff, der sich auf shakespeares lear bezieht.
was bleibt ist die hoffnung.

kinomu - 9. Mai, 04:47

Ja, ein begabter Redner

mit Sinn für Humor.

ad "utopische friedens-träume der aufklärung": utopisch aus heutiger Sicht, Steiner ist davon überzeugt, daß man es damals nicht besser wissen konnte, daß abweichende Meinungen als verrückt galten (ZB 17. Jh. "Europa wird im 20. Jh im Blut versinken"; Nietzsche; Karl Kraus 1911: man wird Handschuhe aus Menschenhaut machen)
wahrscheinlicher Grund für den Glauben an die Weiterentwicklung des Menschen ("nie mehr Folter, Krieg, Bücherverbrennungen") und an deren potentielle Vollkommenheit, für die Überschätzung: technischer Fortschritt und Industrialisierung, (ich füge hinzu:) soziale Disziplinierung (man sieht, daß Menschen den Maschinen angepaßt, in Schulen, der Armee... geändert werden können und vertraut auf diese Erfahrung)

ad "künstler und intellektuelle": viele haben nicht nur gekuscht (das könnte man als "hatten Angst um ihr Leben, wollten ihre Angehörigen nicht gefährden" gut verstehen), sondern waren "Verbündete der Finsternis": Heidegger ("Privatnazi", zeigte keine Reue), Céline (leidenschaftlicher Antisemit), Sartre (leugnete Verbrechen der kommunistischen Länder), Brecht; Freud war die ersten Wochen begeistert vom Ersten Weltkrieg (wie der Großteil der Bevölkerung)

häufiger Grund für Barbarei und Durst nach Heldentum: l'ennui (Langeweile)

Schade, daß er nach der Anekdote vom Schriftstellerkongreß im Moskau (1937) nicht näher erklärt hat, warum er den Westen für gefährdeter (oder gefährlicher) hält, das hätte mich am meisten interessiert.
ferromonte - 9. Mai, 12:40

danke für die ergänzungen

ich hab leider nicht mitgeschrieben. warum der westen mehr gefährdet ist? du meinst die sezene mit b. pasternak, der nur eine zahl sagt, und die teilnehmer nehmen sich an den händen und rezitiern das entsprechende shakespeare-sonnett. --- eine szene, die wirklich rührt, ja.
ich denke: der westen ist übersättigt, und den menschen hier ist langweilig. sie sind von der "realität" des menschlichen noch viel weiter entfernt. in den schulen wird etwa der wert von shakespeare so gut wie niemals vermittelt, man lernt nichts auswendig. man hat keine "inneren werte", die menschen sind viel kranker als die - materiell - ärmeren menschen des ostens. wir sind der manipulation viel ungeschützter ausgesetzt. wie man beobachten kann wird ja auch alles gemacht mit etwa der bevölkerung österreichs. da ist kein widerstand mehr. politiker können bestimmen, was sie wollen, wir schlucken es und wählen sie wieder. so könnte er gemeinst haben, so mein gedanke.
ob das wirklich so ist, würde ich allerdings offen lassen.

(oder, was mich schon lange beschäftigt: die stadt als meine umwelt: ein schlachtfeld, die werbeflächen als täglicher sinnenterror, ich empfinde das als seelische folter. mit welchen recht nehmen sich firmen, unternehmen etc. die erlaubnis, meine umwelt dermaßen zu verändern, daß ich diesen bildern und worten, die nun mal ihre wirklung tun, ausgesetzt werde? habe ich kein recht auf einen weg, der nicht gesäumt von plakaten ist? muß ich mich wirklich diesem bombardement an werbungen aussetzen? das TV gerät kann ich abschalten, meine umwelt aber nicht.)

nachtrag: nicht ALLE (künstler) haben gekuscht. einige sind umgebracht worden, einige sind emigriert (hermann hesse etwa) und haben klare worte gefunden für das, das sich in deutschland/österreich abgespielt hat. das war der einzige punkt, der mich gestört hat im vortrag steiners: pauschal alle zu nennen. das stimmt so nicht.
auch der schluß war etwas merkwürdig: mit celans worten "eine neue sprache zu finden, eine sprache des nordens" oder ähnlich.
ferromonte - 8. Mai, 23:53

errata

"Es gibt keine Gesellschaft, keine Landschaft, keine Stadt und kein Dorf, die nicht wert wären, verbessert zu werden. Umgekehrt gibt es keinen Ort, der nicht wert wäre, verlassen zu werden, wenn Ungerechtigkeit oder Barbarei das Ruder übernehmen. Die Moralität muß ihre Koffer immer gepackt haben." (g. steiner, aus "errata")

ferromonte - 26. Mai, 19:51

börne preis

der "tolerante fanatiker" george steiner erielt gestern in der paulskirche in frankfurt den börne-preis.
3sat/kulturzeit:...Ein Dreiklang, der stimmt. Börne träumte von der deutschen Demokratie. Seine Liebe zu Deutschland hinderte ihn nicht daran, die Deutschen zu kritisieren. Ähnlich besorgt ist George Steiner um Israel. Außenminister Joschka Fischer, der letzte Börne-Preisträger, wählte George Steiner zu seinem Nachfolger.

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